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Pariser Klimaziele: Warum technologische Lösungen nicht ausreichen

VDI-Vortrag beleuchtet den langen Weg zur Netto-Null
28/04/2025
Das Pariser Klimaabkommen sieht vor, dass die weltweiten Netto-Treibhausgasemissionen bis zur Hälfte des Jahrhunderts auf null sinken sollen. Hält die wissenschaftliche Forschung das für realistisch? Und wie sind die nötigen Maßnahmen mit wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Verantwortung in Einklang zu bringen?
Prof. Dr.-Ing. Carlos Härtel, Honorarprofessor für Innovation und Strategie an der Fakultät für Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München und seit vielen Jahren als Berater in Industrie und Wirtschaft im Einsatz, widmet sich im VDI-Vortrag diesen brisanten Fragen. Das Interesse ist groß: Mehr als 50 Teilnehmende verfolgen Härtels Ausführungen, die nicht wenige nachdenklich zurücklassen.
Die Zeit drängt
„2050 – das klingt so, als wäre es ganz weit weg“, sagt der Strategieexperte. „Tatsächlich aber ist es morgen Früh.“ Weil das Thema unerschöpflich ist, will Härtel in seinem Vortrag nur den Aspekt der Zeitmaßstäbe behandeln. Gleich zum Einstieg auf einen Nenner gebracht: Die Zeit drängt.
Do your best, remove the rest: Nach diesem Motto müsse versucht werden, die globale Erderwärmung unter 1,5 bis zwei Grad zu halten, ist Härtel überzeugt. Die Maßnahmen: Defossilisierung, Neutralisierung unvermeidbarer Emissionen sowie negative Emissionen, also die CO₂-Entnahme aus der Atmosphäre.
Erneuerbare Energien müssen um ein Vielfaches wachsen
Um die Pariser Klimaziele bis 2050 zu erreichen, müssten erneuerbare Energieträger in großem Umfang ausgebaut werden, erklärt Härtel. In Zahlen: Windenergie müsste um das 15-fache, Solarenergie um das 25-fache, Grids (Stromnetze) um das Dreifache, Wasserstoffenergie um das 500-fache und E-Mobilität um das 60-fache wachsen.
Der Fakt, dass in naher Zukunft keine Reduzierung von CO₂-Emissionen in der globalen Stahlproduktion zu erwarten sei, mache die Sache nicht einfacher: „Stahl ist das Rückgrat der grünen Transformation“, sagt Härtel. Für den Ausbau von Windkraft- und Solarenergie und natürlich auch für eine umfassende Elektrifizierung der Wirtschaft werden gewaltige Mengen des begehrten Werkstoffs benötigt. Bis 2030 kann CO₂-neutraler Stahl laut European Steel Association aber voraussichtlich nur zwei Prozent der weltweiten Nachfrage decken.
Energieverbrauch steigt, Wachstum verlangsamt sich
Außerdem: Während der Energieverbrauch weltweit steigt, fallen die Wachstumsraten im Bereich Wind und Solar. Härtel: „Je größer ein Wirtschaftszweig ist, desto schwieriger wird es, ihn weiter auszubauen. Engpässe können überall entstehen in der Wertschöpfungskette – von den Rohstoffen über die Dienstleistungen bis zu den Reparaturen.“
Selbst bei angenommenen jährlichen Wachstumsraten von 14 Prozent in der Wind- und 24 Prozent in der Solarenergie müsste man den globalen Energieverbrauch für mindestens ein Jahrzehnt auf dem heutigen Stand einfrieren, wenn man die globale Erwärmung deutlich unter 2° C halten will, so Härtel. Die unbequeme Konsequenz: Es gäbe kein Wachstum beim Bruttosozialprodukt – was schwierig sei, weil „politisch nicht zu verkaufen“.
Negative Emissionen: CO₂ dauerhaft entfernen
Um den gesetzten Klimazielen näherzukommen, müssten Teile des ausgestoßenen Kohlendioxids mittels unterschiedlicher Technologien wieder aus der Atmosphäre entfernt werden, erklärt Härtel. Das schweizerische Unternehmen Climeworks etwa entwickelt ein Direct-Air-Capture-Verfahren (DAC), das mit speziellen Filteranlagen CO₂ aus der Umgebungsluft abscheidet, anschließend konzentriert und schließlich unterirdisch lagert – in tiefe Basaltfelsen gepresst. Durch diesen Prozess wird das CO₂ eingeschlossen und seine Freisetzung in die Atmosphäre verhindert. Es bleibt, so das Unternehmen, über 10.000 Jahre lang sicher gespeichert.
Die Förderung von Maßnahmen und Verfahren zur Reduzierung von CO₂-Emissionen oder zur Kohlenstoffspeicherung wird in vielen Wirtschaftsbereichen seit einiger Zeit als Instrument des freiwilligen Klimaschutzes eingesetzt. Unternehmen wie Microsoft, Shopify oder Audi kaufen CO₂-Removals in Form von Zertifikaten, um ihre Klimabilanz zu verbessern. Eine Verpflichtung hierzu gebe es aber bis heute nicht, kritisiert Härtel.
Rationierung: Politisch nicht vorstellbar
Solange Regierungen weltweit zwar bemüht seien, die Klimakrise zu verlangsamen, jedoch davor zurückschreckten, unpopuläre und kostspielige Maßnahmen zu ergreifen, führe das zu einem steigenden Bedarf an negativen Emissionen, die jedoch nicht im nötigen Umfang erzeugt werden könnten. Beispiel: Mit einem Notfall-DAC-Programm und Investitionen von 1,2 bis 1,9 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung könnte es bis 2050 gelingen, 2,2 bis 2,3 Gigatonnen CO₂ jährlich aus der Atmosphäre wieder zu entfernen – ein Programm, das unter zivilen Bedingungen aber kaum realisierbar erscheint, erklärt Härtel.
Der Strategieexperte resümiert: „Alle globalen Maßnahmen, die heute ergriffen werden, sind viel zu gering, wir brauchen ein Vielfaches.“ Erneuerbare Energien und Elektrifizierung seien zwar das Rückgrat einer grünen Transformation, reichten aber nicht aus. Die Beseitigung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre sei darum mehr als nur eine Option, sie sei inzwischen eine Notwendigkeit. Lösungen für die Netto-Null im Jahr 2050 müssten ein Paket unterschiedlicher Maßnahmen sein, zu denen auch Technologien gehörten, die sich aktuell noch im Erprobungsstadium befinden. Neue Technologien im Bereich industrieller Infrastruktur hätten allerdings immer einen langen Skalierungsweg vor sich. 30 Jahre und mehr, prognostiziert der Experte.
Aber: „Klimaschutz ist im Kern kein technologisches Problem, sondern vielmehr eine Frage der politischen und sozialen Akzeptanz der erforderlichen Maßnahmen. Wollte man z.B. den globalen Energieverbrauch auch nur für eine begrenzte Periode einschränken, käme man um Rationierung in der einen oder anderen Form nicht herum. Politisch ist das aktuell nicht vorstellbar, wenn man sich die Verhältnisse in der Welt anschaut. Genau daher kommt auch der unbändige Wunsch nach technologischen Lösungen, die uns solche schmerzhaften Einschnitte und die folgenden gesellschaftlichen Konflikte ersparen könnten.“
GA
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